18.5. – 1.6.2021,

Epilog: Sarah Buckner, Head over Heels

, Projektraum von Westfälischem Kunstverein und LWL-Museum für Kunst und Kultur

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Sarah Buckner, Kinderhaus, 2021, Öl auf Leinwand, 81 x 73 cm

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Epilog markiert das letzte Kapitel eines Jahres in der liebgewonnenen „Hütte“. Epilog beschreibt einen Moment der Reflexion, des Innehaltens und des Rückblicks, aber auch des Aufbruchs und ist selbst eine Abfolge verschiedener Kapitel. Als eine Serie von vier Einzelausstellungen bietet sie einen Einblick in die Herangehensweise der einzelnen Künstler:innen, ihre Arbeitsweisen, Bild- und Materialwelten. Mit neuen Arbeiten, die von Skulptur über Installation bis hin zu Malerei, von forschungsbasierten Prozessen bis hin zu Erkundungen von Narrativen und Populärkultur reichen, verhandeln die vier Stipendiat:innen von Residence NRW⁺, Jasmin Werner, Sarah Buckner, Sami Schlichting und Pablo Schlumberger, die Besonderheiten des Projektraums von Westfälischem Kunstverein und LWL-Museum für Kunst und Kultur als Mittel zur Reflexion der materiellen und diskursiven Rahmenbedingungen ihrer eigenen Praxis. Welche Bedingungen liegen ihr zugrunde, welche Bedingungen setzt sie voraus? Unter Einbeziehung der spezifischen Räumlichkeit und der Fensterfront des Ausstellungsraumes beschäftigt sich diese Serie von Solos auch mit der Idee, was es für die jeweilige Arbeit bedeutet, unter den aktuellen Umständen ausgestellt zu werden.

Émile Zolas Roman Thérése Raquin beginnt wie folgt: „Am Ende der Rue Guenegaud, von den Kais kommend, befindet sich die Arkade des Pont Neuf, eine Art schmaler, dunkler Korridor, der von der Rue Mazarine zur Rue de Seine führt. Diese Arkade ist höchstens dreißig Schritte lang und zwei in der Breite. Sie ist mit abgenutzten, losen, gelblichen Fliesen gepflastert, die nie frei von beißender Feuchtigkeit sind. Die quadratischen Glasscheiben, die das Dach bilden, sind schwarz vor Schmutz.”

Mit Thérése Raquin verfeinerte Zola eine neue literarische Gattung, in der das Klima als Ausdruck einer ungezügelten Natur, frei von jeglicher kartesianischer Moral, den Rahmen für die Entwicklung und das Handeln der Figuren bildet. Ausgehend von dieser Genealogie der durch Atmosphären geprägten Charaktere erforscht die zeitgenössische Autorin und experimentelle Musikerin Jenny Hval in Paradise Rot ein ähnliches Motiv. Darin erschafft Hval eine Stimmungslage, die wie ein Klima auf Verhältnismäßigkeiten beruht – ein Klima, das im Roman die menschlichen Beziehungen und ihre Entstehung in der Welt durchdringt, um die Geschichte einer organischen, fungiblen, erotischen Moral zu erzählen, die intim und doch undefiniert ist.

Wenn ich bislang von Literatur und nicht von Sarahs Malerei gesprochen habe, dann deshalb, weil die in dieser Ausstellung gezeigten Arbeiten parallel zu einer weiteren Serie entstanden sind, die sich bei der Lektüre von, unter anderem, Virginia Woolfs Orlando entwickelt hat. Als die Pandemie in unseren Alltag eindrang, uns von unserer bisherigen Normalität entfernte und ein Vokabular der Kontamination, der unsichtbaren Bedrohung und der Destabilisierung von Intimität mit sich brachte, fand Sarah in Romanen das Material für L'invitation au voyage. Head over Heels erscheint somit als Formalisierung dessen, was man als Atmosphärenschaffung als narrative Praxis beschreiben könnte, die sie einsetzt, um von einer alltäglichen, verfremdenden Pandemie im Münsteraner Stadtteil Kinderhaus zu erzählen.

In der Tat unterscheiden sich die im Rahmen von Epilog gezeigten Bilder von Sarah Buckners bisherigen Werk. In Nuancen von bräunlichem Rot – den Ziegeln der Münsteraner Vorstadt – oder von Grün und Blau – der feuchten Landschaft eines Sommernachmittags – ersetzen die Arbeiten frühere, durch unheimliche Motivkopplungen beschworene Traumphantasien mit dem luftigen Gefühl eines feuchten, alles durchdringenden Klimas. Wie bei Hval schweben auch Sarah Sujets und breiten sich in Resonanz mit den Farben der Landschaften aus, unsicher über die Richtung, die sie einschlagen. In diese vage, un(ge)sicherte Szenerie treten erstmals Skulpturen, als ein Novum im zumeist zweidimensionalen Werk von Sarah Buckner. Dabei wirken sie wie das Archiv des durch Landwirtschaft geprägten Stadtteils Kinderhaus und lassen zugleich an Ex-Voto denken. Die hier aufscheinende Verdinglichung eines Motivs mag nicht zuletzt von einem urmenschlichen Verlangen zeugen – ein Wunsch, der im Ausgeliefertsein von Raum und Zeit geradezu notwendig scheint: Etwas zu greifen, und sich daran festzuhalten, im Kontrast zu den flüchtigen, sich entziehenden und verschwimmenden Farbwelten der Malereien.

Aber es würde die Sache verfehlen, wenn ich Sarahs Malerei als bloßes Echo der Literatur beschreiben würde. Tritt eine Erzählung doch erst mit den Worten in ihr Leben, scheinen diese in Sarahs Ausstellung nicht nur zu verstummen. Mehr noch bedarf es überhaupt nicht, sie zu sprechen. Denn Worte, meine eingeschlossen, können höchstens an der Oberfläche einer Bedeutung kratzen, die sich organisch mit Hilfe von Feuchtigkeit, leiser Erotik und unmittelbarer Intimität verdichtet hat. Und dort, wo meine Fingernägel Spuren hinterlassen haben, mag sich ein Spalt auftun, durch den man vielleicht einen flüchtigen Einblick erhält in eine Suche nach einer möglichen Position, einer Identität innerhalb einer affektiven, unruhigen Welt.

Text: Julie Robiolle

Sarah Buckner (geb. 1984 in Frankfurt, Deutschland) lebt und arbeitet in Köln. In der Farbe und durch die Malerei denkend, hat Buckner einen intuitiven und fließenden Ansatz entwickelt, der diese Eindrücke durch ihre materielle Praxis transformiert. Ihre Figuren fühlen sich nach offenem Prozess und genauer Beobachtungen zugleich an. Sie scheinen einem voll ausgebildeten Leben zu entspringen, von dem wir nur einen kurzen Blick erhaschen können und tragen Spuren des Lebens der Künstlerin in sich, aus Literatur, Träumen, Imaginationen. Einige Bilder sind aus Gründen, die wir vielleicht nicht kennen, unbeschwert, andere Bilder können so wirken, als würden sie Momente der Angst, Verwirrung oder Hoffnung darstellen. Für Buckner dient die Welt mit all ihren Erfahrungen – literarischen oder anderen – als poetisches Sprungbrett. Buckners Arbeiten wurden in Einzel- und Gruppenausstellungen in ganz Europa und Nordamerika gezeigt. Zu den jüngsten Ausstellungen gehören: Chances Are, Ermes-Ermes, Cologne (2019), Sarah Buckner, Residence and Solo-Show, Edward Ressle Gallery, New York (2018), Petto, L´ascensore, Palermo (2015). Zu den Gruppenausstellungen gehören Il Lenzuolo Viola, Ermes-Ermes, Wien (2020), Salon des Amateurs, Tramps, London (2018), Lia Pasqualino Noto / Casa Studio, kuratiert von Geraldine Blais, Manifesta 12, Palermo (2018), Guanto, Institut für Bienenzucht, Köln (2018), 1001 Bild, Villa de Bank, Enschede (2018) und Beyond the Stage, Canongate Venture, Edinburgh (2013).

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